Interview mit Michael Kretschmer
Seit 2017 leitet Michael Kretschmer die Regierungsgeschäfte des Freistaates. Ein Markenzeichen des gebürtigen Görlitzers und studierten Wirtschaftsingenieurs ist es für alle Sächsinnen und Sachsen sprechen zu wollen. Deshalb hat der Ministerpräsident auch die Schirmherrschaft für das Jahr der jüdischen Kultur übernommen. Anlässlich des Starts haben wir ihm einige Fragen gestellt, die er uns gerne beantwortet hat:
Sie stammen aus Görlitz, eine Stadt mit reicher jüdischer Geschichte. Wann hatten Sie den ersten Kontakt mit jüdischer Religion und Kultur?
Michael Kretschmer: Die Görlitzer Synagoge hat die nationalsozialistische Zerstörungswut überlebt und ist ein sehr bestimmendes nicht zu übersehendes Gebäude. Auch wenn es keine Gemeinde mehr gab, war allein das Gebäude Anlass dafür über jüdische Religion und Kultur nachzudenken.
In Görlitz leben inzwischen wieder Jüdinnen und Juden. Wie wichtig ist es, dass jüdisches Leben heute in die Stadt Görlitz wieder zurückkehrt?
MK: Menschen jüdischen Glaubens haben über Jahrhunderte die Stadt geprägt. Mit ihrem Glauben, mit ihrer Frömmigkeit, mit ihrer gelebten Kultur, ihrem Engagement für die Stadt und auch mit ihrer Geschichte als Glaubensgemeinschaft, die durch die Jahrhunderte Ausgrenzung und Diffamierung erfahren hat. All diese Erfahrungen gehören in die Görlitzer Stadtgesellschaft.
Leider ist jüdisches Leben wieder Anfeindungen ausgesetzt. Was können Politik und Gesellschaft in Sachsen konkret tun, um jüdisches Leben unterstützen und zu schützen?
MK: Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Ich finde es absolut skandalös, dass Menschen jüdischen Glaubens ihr religiöses Bekenntnis in der Öffentlichkeit in Teilen verbergen aus Angst vor Anfeindung. Das ist nicht zu dulden. Wir sind da sehr klar: Wir schützen jüdische Einrichtungen und zeigen staatliche Präsenz. Wir unterstützen alle Formate, in denen informiert und aufgeklärt wird. Wir unterstützen die persönliche Begegnung und den Austausch, gerade auch mit dem Jahr der Jüdischen Kultur. Es zeigt sich immer wieder: Verhetzung gedeiht auf dem Nährboden mangelnder Bildung und vor allem mangelnder Kenntnis. Auch formal hoch gebildete Menschen können sich in Ressentiment und Ideologie verrennen.
Kritiker behaupten, Erinnerungskultur sei reine Symbolpolitik – wie sehen Sie das?
MK: Wir Menschen brauchen Symbole und Zeichen. Sie gehören seit jeher zur menschlichen Kultur. Sie bündeln Bedeutungen, stehen für Erfahrungen oder Hoffnungen. Manchmal ersparen sie einem, Worte zu finden. Sie werden von allen verstanden.
Richtig ist, dass das Symbol leer werden kann, wenn der Inhalt nicht mehr verstanden und nachvollzogen wird. Diese Möglichkeit besteht. Symbole helfen bei der Erinnerung, geben ihr eine einfache Form. Jede Generation muss sich Erinnerungskultur neu aneignen. Ein sehr schönes Beispiel war gerade der jährlich stattfindende „Weg der Erinnerung“ mit Jugendlichen in Dresden. Dabei beschäftigen sich die jungen Menschen mit konkreten Orten in ihrer Stadt und stellen die Frage, in welcher Beziehung diese zur Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung stehen.
Warum sollten junge Jüdinnen und Juden nach Sachsen ziehen?
MK: Es sollten generell junge Menschen nach Sachsen ziehen. Sachsen soll ein Land sein, in dem man sein Leben gestalten kann, indem man sicher und respektiert leben kann, mit guten Chancen für jeden Lebensbereich und hoher Lebensqualität. Die schöne Landschaft haben wir geschenkt bekommen. Die reiche Geschichte haben wir geerbt. Alles andere liegt in unserer Hand. Und zu einer guten Zukunft gehört, dass es im Miteinander Respekt und Interesse für das religiöse Bekenntnis und den Lebensentwurf gibt. In Sachsen gibt es seit über 1.000 Jahren jüdisches Leben. Es gehört zu Sachsen. Ist es nicht da, fehlt dem Land etwas.
Es gibt sehr viele großartige jüdische Kulturschaffende in Vergangenheit und Gegenwart. Welche haben Sie besonders beeindruckt?
MK: Da fällt mir die Auswahl schwer. Denn auf nahezu allen Gebieten, ob Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur haben Jüdinnen und Juden Herausragendes geleistet. In Jahr 2025 schauen wir auf die Kulturhauptstadt Chemnitz. Dort haben die Gebrüder Schocken dieses tolle Kaufhaus gebaut, das heute das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz beherbergt. Der Schriftsteller Stephan Heym kommt auch aus Chemnitz. Für ganz Sachsen möchte ich an den ersten Ministerpräsidenten Georg Gradnauer erinnern. Auch er war ein Jude. Als Görlitzer ist mir die Schriftstellerin Clara Hepner wichtig, die jüdische Märchen erfunden hat. Als Wissenschaftsfan bin ich natürlich fasziniert von Albert Einstein. Er hat die Physik revolutioniert. Seine Lebensgeschichte zeigt exemplarisch, was Deutschland mit seinem Antisemitismus verloren und damit auch sich selbst angetan hat.
Am 12. Dezember 2026 endet das Themenjahr in Görlitz. Was soll von diesem Jahr bleiben?
MK: Ich wünsche mir, dass wir mit Neugier und Interesse auf das vielfältige jüdische Leben in Sachsen schauen und seine Spuren in den Städten und Dörfern, in den Unternehmen und Museen, in den Konzerthallen und Universitäten besser wahrnehmen. Im besten Falle gelingt es uns allen, dass jüdisches Leben einfach zum sächsischen Alltag gehört.
Gibt es ein jiddisches Wort, das Ihnen besonders gut gefällt?
MK: Ich mag „meschugge“ gern. Es ist ein gutes Wort. Man kann über den Alltagswahnsinn lachen und wenn man einen anderen Menschen so bezeichnet, ist das auch eher liebevoll-versöhnlich.
